Ulrich Brauchle - Radierungen
Text für den Katalog zur Ausstellung des Kulturförderkreises Kißlegg e. V.
1. Juli bis 9. September 2007, Neues Schloss Kißlegg
Ulrich Brauchle ist mit seinem Radierwerk nahe an der Natur, sei es die der unmittelbaren Umgebung, sei es die inwendige mit ihren wechselvollen, sich überscharf aufdrängenden und dann wieder verschwommen überlagernden Bildern, Ahnungen, Wünschen und real-irrealen Konstrukten. In solchem Zusammenhang öffnet er sich bei seiner künstlerischen Arbeit Fragen nach Selbstbild und Weltbild, Selbsterkenntnis und Welterkenntnis weit über die optische Wahrnehmung hinaus.
Unabhängig von Kunst und Wissenschaft versuchen wir ja immer, uns ein Bild zu machen, eine Vorstellung zu entwickeln, wie das Gewachsene und das vom Menschen Gemachte, das Vorgefundene und das Veränderte in ihrem Grund und Wesenskern beschaffen seien. Uns interessiert ihr gegenseitiges Verflochtensein und ihre wechselseitige Wirkung aufeinander. Und doch erfahren wir das uns unmittelbar Gegenüberstehende mit all seinen Phänomenen und Prozessen oft als fremd, ungenau, wenig greifbar und begreifbar.
An diesem Punkt der Unübersichtlichkeit setzt Ulrich Brauchle mit seinem Zeichnen an. Durch seine Bilder wirft er Schlaglichter auf Wesentliches, öffnet uns einen exemplarischen Zugang zum Eigentlichen, indem er zuvor Verborgenes zu Herausragendem macht. Er rückt elementare, gleichwohl individuelle Gebilde des Organischen in seinen Fokus, bekräftigt sie alsbald stechend mit kalter Nadel, oder in den weichen Firnis zeichnend durch Verknappen, Reduzieren. Dem solchermaßen Beschränkten und Betonten, nun Bild geworden, führt er neue Kraft zu. Im Wegräumen und Weglassen gelingt es ihm, Schichten freizulegen, die dem Sehen und Denken zunächst verborgen waren. Sein Radieren ist ein machtvolles und stilles Vereinzeln, das unsere Sinne gebündelt hinführt zum Sehenswerten. Ahnungsvoll und wie unabsichtlich spürt er dem anscheinend Einfachen nach, dem leicht zu Übersehenden, Unauffälligen, in welchem er die Energie zu Größerem aufgehoben weiß. Der Betrachter fühlt sich von ihm gleichsam an die Hand genommen, hingeführt zu einem inneren Brennpunkt des aufmerksamen Betrachtens und Sehens, des Ausschauens nach den wesensbestimmenden Grundsätzen inmitten aller Fülle, die, das erleben wir täglich, mehr verdeckt als preisgibt.
Den gesamten künstlerischen Prozess begleitet und durchwaltet bei ihm ein intensives Aufnehmen und Einwirkenlassen des nahe Liegenden, der Landschaft etwa, die sich vor den Atelierfenstern breitet, der Streuobstwiesen mit ihren bizarren Gewächsen, des changierenden Himmels, der hier am Albrand ein ganz eigenartiger ist. Gleichermaßen gewinnen die Menschen um ihn mit ihrem Beziehungshandeln und ihrer inneren Bewegung in diesem Wirkprozess Platz und Präsenz in seinen Bildern. Brauchles Radierungen handeln vielfach davon, wie Natur und Landschaft ungleich mehr sind als bloße Kulisse, wie beide den Menschen individuell fordern, formen, wie sie etwas in ihn hineintragen, das er sich auf je verschiedene Weise zu eigen werden lässt, das ihn bereichert, beschneidet, engt und weitet zugleich.
Brauchle zeigt Landschaft als naturhafte Prägung und kulturelle Formung, nicht als Inbegriff von harmonisch Schönem, auch nicht nur als Hervorbringerin des in ihr wurzelnden Lebens. Vielmehr ist sie ihm Fundus für Tableaus, in denen er davon spricht, wie sie den Menschen umgreift, packt, ihn zu Aktion und Reaktion veranlasst. Dabei schöpft er aus dem Wechselspiel von vorgefundener äußerlicher Form und innerem Bild, von zufällig sich einstellenden Spuren und zum Ausdruck drängenden Vorstellungen.
Fast unmerklich gleitet er dabei hinüber in andere Wahrnehmungsfelder, assoziiert poetische Bildaphorismen, reiht seine so genannten kleinen Einfälle, die Traumhaftes, Phantastisches und existenziell Berührendes, Bestimmendes zusammenbringen, voller Gegensätzlichkeit aneinander. Sein oftmals praktiziertes Verfahren, von einer Platte zu drucken, sie dann additiv verändernd anzureichern und in ganz unerwartete Richtungen weiter zu treiben, erscheint als das bildnerische Pendant zu seinen reichhaltigen Assoziations- und Vorstellungsketten. Im Fortgang des Bearbeitens des metallenen Druckstocks kommt es zur Abwandlung, zum Überdecken oder zur Auslöschung der Erstfigur. Zuweilen wird sie unentwirrbar verflochten mit sich selbst oder ihrem materialen oder personalen Gegenüber, dann wieder gerät sie aus statischem Verharren in Bewegung und umgekehrt. Im Hinübergang gebiert die bisherige Form die neue. So geht es von Bild zu Bild auf der Suche nach dem idealen, das es, dessen ist sich Brauchle sicher, nie geben kann. Dann wäre die Kunst am Ende. Immer aber ist die frühere Erscheinung aufgehoben in der ihr folgenden, ist sie Konstituens ihrer Nachkommen. Brauchle schreibt solchermaßen Augenblicke fest, macht aber gleichzeitig ihre Zeit- und Endlichkeit sichtbar, ihre Relativität und Unbeständigkeit, ihre Verletzlichkeit und Unzulänglichkeit, zeigt eindringlich, dass es den Formwandel nicht um den Preis des Erhalts des Bisherigen gibt. Gleichwertig aber stehen die einzelnen Zustandsmanifestationen nebeneinander, heben die gefühlte Zeit für einen Moment auf; allesamt sprechen sie vom Mehr mit ihrem wenigen Verfügbaren, von den unzähligen noch nicht ereigneten Formwerdungen, von den ungeahnten Möglichkeiten des Lebendigen, vom Drängen über sich hinaus. Jedes seiner Bilder verweist auf den Urgrund, sein Kraftfeld, aus dem es herausgeritzt wurde mit scharfer Nadel. Nicht von ungefähr wird der enge etymologische Zusammenhang von ritzen und schreiben (engl.: write) in Brauchles Radierungen evident. So wie ein Text im Fortschreiben an Fülle gewinnt, akkumuliert er in seinen graphischen Reihen und Einzelblättern Komplexität und Formenvielfalt von Figur und Lebensraum.
Für seine bildnerischen Aussagen über Mensch und Landschaft, Baum und Wolke, Ruhe und Bewegung benötigt Ulrich Brauchle zumeist nur wenige Striche, entschieden kraftvoll und frei gesetzt. Dann wieder umreißt er mit verhaltenem, feinem Zug ein Gesicht, einen Körper, verwandelt Positiv- in Negativformen, verkehrt innen und außen, legt Schwärze über die ehedem zart angelegte Figuration, überstrichelt oder umdunkelt sie, reibt die Platten ganz verschieden aus. Mit den solcherart erzielten abgestuften oder gegensätzlichen Tönungen und Grundstimmungen gibt er den Blättern unterschiedlichste Richtung und Energie.
Sein reiches zeichnerisches Vokabular, ebenso sorgsam wie sparsam eingesetzt, erlaubt ihm, in vielfältiger Weise von Wachstum, Bewegung, Austausch, Wandel und Vergehen, von unendlicher Endlichkeit zu sprechen, aber auch von Bedrohung und Abgeschnittensein, Begrenztheit, unerfülltem Begehren und dem Eingesperrtsein ins eigene Ich. Seine großen Themenkreise sind bei aller Vielfalt des Ausdrucks Mensch und Natur, die Metamorphose, das Ephemere und die dialektische Spannung, die allem Lebendigen eignet. Dass er von den farbigen Leinwänden immer wieder zurückkehrt zu Radierplatte und widerständigem Stichel, liegt einerseits in den damit verbundenen zahlreichen Möglichkeiten zur Bearbeitung und fortschreitenden Abänderung, sowie der Verbindung mehrer Radierverfahren begründet, andererseits in der Herausforderung, durch die Begrenzung auf den Schwarzdruck einzig mittels Linie und Fläche, Schwärze und Papierton zum schlüssigen Bild zu kommen. Den Aspekt des Radierens, eine größere Anzahl identischer Exemplare erzeugen zu können, erachtet er in einer Zeit, da die schnelle Produktion und Verfügbarkeit von Bildern zum Alltag gehört, als paradox und anachronistisch. Ihm kommt es vielmehr darauf an, dieses graphische Verfahren experimentell auszuloten, weiter zu entwickeln und mit ihm bildnerische Lösungen zu erreichen und Wirkungen zu erzielen, wie sie die reine Zeichnung und Malerei nicht ermöglichen.
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